»Sweeney Todd« an der Komischen Oper

Der Barbier Benjamin Barker kehrt in seine Heimatstadt London zurück, aus der er fünfzehn Jahre zuvor verbannt worden war. Unter dem Decknamen Sweeney Todd will Barker seine Rache an Richter Turpin vorbereiten, der ihn einst willkürlich verurteilt hatte, um sich ungestört an seine Frau Lucy heranmachen zu können. Von seiner ehemaligen Nachbarin Mrs. Lovett erfährt der Barbier, dass die vom Richter vergewaltigte Lucy sich vergiftet habe und dass seine Tochter Johanna nun Turpins Mündel sei. Mrs. Lovett bietet Todd das Zimmer über ihrem Pastetenladen an, wo er wieder als Barbier arbeiten und seine blutige Rache vorbereiten kann.

Das makabere Musical "Sweeney Todd" um einen mordenden Barbier war trotz seines blutigen Themas Ende der 70er Jahre ein großer Broadway-Erfolg. Die erste Berliner Aufführung läuft jetzt an der Komischen Oper - und die hat damit einen guten Griff getan. Zwar bleibt dieses Musical, trotz einiger Ungewöhnlichkeiten, fest in seiner Gattung verwurzelt, doch das immer - dazu trägt auch die feinfühlige Inszenierung von Christopher Bond viel bei - ohne platt oder kitschig zu sein. Die Musik von Stephen Sondheim entspricht weitgehend Musical-Konventionen, sie ist stark lautmalerisch, leitmotivisch, klingt nach Filmmusik, ist gefällig. Dazwischen aber gibt es immer wieder Stellen, die aufhorchen lassen, die gewürzt sind mit einem besonderen Kniff. Sondheim arbeitet viel mit Zitaten, auch persiflierend, wobei er so geschickt Trivialformen benutzt, wie er sich aus der sogenannten E-Musik bedient. So gibt es viele Anklänge an die Opernklassiker der Moderne von Berg bis Britten, wobei - eher ungewöhnlich für ein Musical - auch schrille, unbequeme, sogar atonale Sequenzen zu hören sind.

Die Story von "Sweeney Todd" ist ein wenig konstruiert - aber welches Musiktheaterlibretto wäre das nicht? Tatsächlich handelt es sich hier um eine weitgehend wahre Geschichte aus dem London des 18. Jahrhunderts, die im englischen Sprachraum in verschiedenen Bearbeitungen und Versionen nahezu zum Volksgut gehört. Sondheim und sein Librettist Hugh Wheeler sind jedoch die ersten, die den Morden des Barbiers eine differenzierte Motivation geben. In nicht zu leugnender (auch formaler) Anlehnung an die Dreigroschenoper wagt dieser Musiktheaterabend, in der Zeit der Industrialisierung angesiedelt, sogar behutsam Sozialkritik: Der mordende Barbier ist ein Produkt der Verhältnisse, ein Opfer willkürlicher Justiz. Als Angehörigem der Unterschicht ist ihm jede legale Möglichkeit sich wirksam gegen Richter Turpin zu wehren versagt, und so greift Sweeney Todd schließlich zu extremen Mitteln. Zum Mörder wird er jedoch zunächst mehr aus Zufall und Notwehr denn aus Vorsatz: Als ihn der fahrende Scharlatan Pirelli auf Mafia-Art erpressen will, schneidet Todd ihm mit dem Rasiermesser die Kehle durch.

Mit dem ersten Mord ist die Grenze überschritten, jetzt wird der verhasste Richter in den Friseursalon gelockt, um das Schicksal Pirellis zu teilen. Doch Todd wird bei der Arbeit gestört, Turpin entgeht seiner Rache. Von da an richtet sich der Zorn des Barbiers gegen alle Menschen, "ob arm oder reich, ob groß oder klein". Mrs. Lovett - sie vor allem könnte einem Werk von Brecht und Weill entsprungen sein - ist praktisch veranlagt: Fleisch für Pasteten ist teuer, und die Leichen müssen weggeschafft werden: "Die Menschen verschlingen einander vor Gier, ja alle tun es, warum nicht auch wir?"

Christopher Bond (der mit seinem "Sweeney Todd"-Theaterstück von 1967 auch die Vorlage für Hugh Wheelers Libretto lieferte) gelingt es in seiner Inszenierung, das Genre des Musicals subtil zu parodieren. Immer wieder kommen kleine, mit einem Augenzwinkern vorgetragene Verfremdungen und Ironisierungen vor. Und die gute Besetzung tut ein übriges, dem Abend zum Erfolg zu verhelfen. Da ist zunächst die großartige Dagmar Manzel in der wunderbar witzigen Rolle der Mrs. Lovett. Die gesangserfahrene Schauspielerin kann hier echte Darstellungskunst und viel Komödiantisches einbringen, zwei Dinge, die man in Oper/Musiktheater leider viel zu selten zu sehen bekommt. Und auch musikalisch kann Manzel durchaus mithalten. Herrlich, wie sie bei Mrs. Lovetts erstem Auftritt, in einem wunderbaren Lied über die schlechte Qualität ihrer Pasteten, mit Leichtigkeit immer wieder vom Gesprochenen ins Singen und zurück springt, wie sie zwischendurch kiekst und quietscht - und dabei trotzdem immer den Ton trifft!

Weitere Glanzlichter der Besetzung sind Roger Smeets (Sweeney Todd) und Manfred Sabrowski (Richter Turpin), etwa mit ihrem grandiosen Duett im Friseursalon. Darstellerisch sehr überzeugend sind außerdem Stephan Spiewock in der Nebenrolle des reisenden Barbiers Pirelli, der Todds erstes Opfer wird, und Thomas Ebenstein als dessen Gehilfe Tobias. Auch Peter Renz als Gehilfe des Richters, Michael Nagy als Todds Freund Tony und Valentina Farcas (Johanna) liefern eine solide Leistung ab. Caren van Oijen als Bettlerin wird leider oft zu schrill. Das Orchester unter der Leitung Koen Schoots' spielt zunächst etwas fahrig, fängt sich aber im Laufe des Abends. Der Chor (Einstudierung: Hagen Enke) kommentiert Sweeney Todds Geschichte mit Verve.

Die Komische Oper ist zur vierten Vorstellung zwar recht gut gefüllt, aber leider längst nicht voll. "Sweeney Todd", im englischen Sprachraum bekannt und beliebt, für Deutschland eine Entdeckung, wird sein verdientes Publikum wohl erst mit der Zeit finden - als intelligenter Musical-Abend, der viel Spaß macht und doch mehr ist als "nur Unterhaltung". In der weitgehend komödiantisch vorgebrachten Geschichte steckt eine Menge Tragik, viel mehr, als oft auf den ersten Blick auf der Bühne zu sehen ist - unterschwellig ist sie immer vorhanden. Am Schluss gibt es sogar ein Happy End - aber nicht für Sweeney Todd.

Nora Mansmann