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Berliner Platz (24): Das letzte Abenteuer

Als gebürtiger Berliner kenne ich meine Stadt. Und doch gibt es immer wieder Möglichkeiten, sie neu zu entdecken. Deshalb entschied ich mich, mal wieder eine Sightseeing-Tour zu machen und dabei eines der letzten großen Abenteuer, die diese Stadt zu bieten hat, zu wagen. Die Erlebnistour sollte auf 42,195 Kilometern zu 13 Sehenswürdigkeiten der Stadt führen. Das Problem: Die Strecke wird nicht mit einem Bus abgefahren, sondern gelaufen.

So fand ich mich am 28.09.2003 gegen 8.15 Uhr in der Nähe des Brandenburger Tores ein, um von dort aus zu der Erlebnis-Stadtbesichtigung aufzubrechen. Der Startschuss fiel pünktlich um 9.00 Uhr, die Startlinie konnte ich aber erst um 9.15 Uhr passieren, weil da noch ca. 35.000 andere Teilnehmer waren und ich mit der Nummer 20124 ganz hinten gestartet bin.

Berlin zeigte sich an diesem Tag von seiner schönsten Seite. Temperaturen um die 15°C, ein leichter Wind und ständiger Sonnenschein machten den Lauf zu einem tollen Erlebnis. Im lockeren Lauftempo ging es zunächst zum Ernst- Reuter-Platz, weiter durchs Regierungsviertel und dann in einem Bogen über Mitte nach Kreuzberg. Getragen von einer fließenden Masse und angespornt durch viele Menschentrauben am Straßenrand, konnte ich jeden Kilometer der gelaufenen Strecke genießen und fühlte mich einfach nur gut.

Gesteigert wurde mein Glücksgefühl auch noch durch die zahlreichen Erfrischungs- und Verpflegungsstationen, die in regelmäßigen Abständen für das leibliche Wohl sorgten: Wasser, Tee und Gatorade gab es dort, manchmal auch Apfelschnitze und halbe Bananen. Die Stationen wurden von verschiedenen Organisationen (Sportvereine, TFH, Feuerwehr, Schulen und der Bundeswehr) gestellt und waren von vielen Helfern besetzt. Eins war allen gemeinsam: sie waren toll organisiert, und trotz der ankommenden Menschenmassen betrug meine längste Wartezeit 3 (!) Sekunden. Diese Zeit war auch nötig, um die freundlichen Gesichter und die aufmunternden Gesten überhaupt wahrnehmen zu können.

Ein weiterer Ansporn wartete am Hermannplatz auf mich, wo ich von einem Stand der Berliner Stadtmission besonders angefeuert wurde. Denn am Abend vor dem Marathon hatte ich mich in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu einem ökumenischen Abendgebet eingefunden. Und dabei wurde, nach einer tollen Predigt für Laufbegeisterte, der Hinweis gegeben, es würden noch Läufer gesucht, die den Marathon der Berliner Stadtmission widmen. Und so lief ich am nächsten Tag mit einem Banner der Stadtmission auf dem Rücken – "Auf der Suche nach der Stadt Bestem" (Jeremia 29,7).

Weiter ging es in westlicher Richtung. Bei Kilometer 20 vorbei an dem freundlichen Hinweis eines Plakats der Berliner Morgenpost, dass es zum Ziel nur noch 2,8 Kilometer seien. Luftlinie. Aber darüber konnte ich noch lächeln, ein knapper Halbmarathon war gelaufen und mir ging es bestens. Über das Rathaus Schöneberg ging es dann Richtung Süden nach Steglitz. Links und rechts der Straße standen die Menschen mittlerweile dichtgedrängt und feuerten alle vorbeikommenden Läufer und Läuferinnen an - eine unbeschreiblich schöne Stimmung und tolle Kulisse, die jeden Gedanken an schwerer werdende Beine schnell vertrieb. Besonders nett fand ich hochgehaltene Schilder wie z. B. "Haltet durch, wir halten auch durch." Unter den anfeuernden Massen waren auch immer wieder Bands, die von Jazz über Klassik und türkischer Folklore alles zu bieten hatten.

Nach dem Wilden Eber ging es in nordöstlicher Richtung zum Olivaer Platz und dann den Ku'damm hinunter. Doch trotz der mitreißenden und wunderbaren Kulisse begann ich ab Kilometer 32 mental abzubauen - bin schlicht abgestumpft und habe über weite Strecken keinen bewussten Blick mehr für das Publikum oder die schöne Strecke gehabt. Und wirklich schwer wurde es ab Kilometer 35 (Potsdamer Ecke Bülowstraße). Nun wurden die Gehpausen an den Verpflegungsstationen immer länger, der Tempowechsel zum Laufen immer schwieriger und die Ober- und Unterschenkel begannen hart wie Beton zu werden, während die Knie sich in eine puddingartige Masse verwandelten. Aber es ging ja geradeaus Richtung Potsdamer Platz und damit zum Brandenburger Tor, dem Ziel.

Leider ging es in der Leipziger Straße immer weiter geradeaus nach Osten und damit immer weiter vom Ziel weg. als wir schließlich am Ende der Markgrafenstraße rechts abbiegen mussten (das Ziel lag links), da hörte bei mir aller Spaß auf. Immer häufiger drängte sich mir der Gedanke ans Aufgeben auf, der Wille, einfach nur noch stehen zu bleiben oder mich seitwärts fallen zu lassen, wurde immer stärker. Aber als ich ganz kurz davorstand, mich aufzugeben, kamen zwei Polizisten auf mich zu, sahen mir direkt in die Augen und feuerten mich noch mal besonders an. Und so ging es doch noch einmal weiter.

Endgültig Schluss war dann am Roten Rathaus (Kilometer 40), wo ich am Verpflegungsstand zwei Becher Gatorade nahm und dann einfach nur noch zu gehen versuchte. Die Beine hart und zitternd, die Knie weich und die Füße plattgelaufen - so schien das Ende unausweichlich. Ich stolperte nur noch vor mich hin. Doch dann geschah etwas Wunderbares! Mit einem Mal waren da wieder Menschen um mich, die mich anspornten, mich anfeuerten, mich ansahen und versuchten, mich wieder zum Laufen zu bewegen. Ich wäre für mich nicht mehr gelaufen. Aber für die Leute, für das Publikum nahm ich noch einmal alle Kraft zusammen und bin noch ein letztes Mal los - anfangs mehr gehüpft und gestolpert, dann aber Unter den Linden, wo sich die Läufermassen mittlerweile gelichtet hatten, verfiel ich wieder in mein normales Trainingstempo und konnte plötzlich wieder laufen. Mit hochgerissenen Armen und einem richtigen Endspurt über den Pariser Platz lief ich schließlich durchs Brandenburger Tor und war nach 4 Stunden, 24 Minuten und 53 Sekunden endlich im Ziel.

Bei Kilometer 20 war noch alles bestens.
Foto: privat
Hinter der Ziellinie kam dann ein Gefühl von absoluter Leere. Ich trank viel, konnte aber nichts essen. Ich war einfach völlig platt, dachte an nichts und ging einfach nur den anderen Läufern hinterher. Bei der anschließenden, sehr wohltuenden Massage bin ich fast eingeschlafen. Nur eines war mir ganz klar: mir und meinen Gelenken (Knien) tue ich das nie wieder an!

Mittlerweile kann ich wieder Treppen ohne Schmerzen benutzen. Ich wache nachts nicht mehr wegen des Muskelkaters in den Beinen bei jeder Drehung auf und laufe wieder ganz normal. Der Marathon ist ausgewertet, Stärken und Schwächen herausgearbeitet. Und jetzt, wo Frau Lother (Ernährungsberatung und Sportmedizin), die mich gecoacht und während der fünf Monate im Training begleitet hat, wieder aus dem Urlaub zurück ist, geht's wieder ins Training: Denn nach dem Lauf ist vor dem Lauf. Eine der großartigsten Selbstbestätigungen meines Lebens hat Lust auf mehr gemacht. Marathon ist einfach großartig, und ein veränderter Mensch, wer dabei sein konnte!

Christian Wüstling

Links:
Berlin-Marathon
Berliner Stadtmission

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