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Kokain

Tito Arnaudi, verhinderter Arzt, schreibt als Journalist einen Artikel über die Kokainisten in Paris. Um seinem Gegenstand möglichst nahe zu kommen, rät ihm ein Freund, die Droge selbst auszuprobieren. Fortan wurschtelt sich der berauschte Tito bei seinem wohlmeinenden Chefredakteur mit erfundenen Sensationsgeschichten und im Privatleben zwischen zwei Frauen durch - bis zu seinem Selbstmord aus Langeweile und Überdruß am Leben.

Der Roman „Kokain“ des Italieners Pitigrilli (Dino Serge), in den zwanziger Jahren ein Skandal, dient Intendant Frank Castorf als Vorlage für seine aktuelle Inszenierung an der Berliner Volksbühne. Werbung gemacht wurde im Vorfeld vor allem für das außergewöhnliche Bühnenbild, das diesmal nicht Bert Neumann entworfen hat, sondern der bildende Künstler Jonathan Meese. Er hat ein angeschrägtes, ein versinkendes Gebäude in Form eines riesigen Eisernen Kreuzes gebaut und die schwarzen Wände über und über mit einer bunten Mischung hochgradig assoziativer Bild- und Textfragmente bedeckt. Der Künstler ist offensichtlich fasziniert von martialisch-totalitaristischen Historien-Vokabeln wie ERZ und KAMPF und POLITBÜRO und hat die ganze Bühne mit kryptischen Sprachgebilden wie ERNTEPRODUKTIONSMELDUNG, ERZKAMERAD, GEILNAZIGOLD oder DR. KREML verziert.

Pitigrillis Roman jedoch bietet keinerlei Vorlage für Meeses geschichtliches Referenzenwirrwar, die Handlung spielt hauptsächlich im Paris der zwanziger Jahre, weit weg sowohl von zukünftiger Nazibarbarei als auch von sozialistischen Wortungeheuern. Pitigrillis Kokainisten sind in den Tag lebende Luxusmenschen mit keinerlei politischem Interesse. Meeses verbale Kraftmeierei wirkt wie ein sehr bemühter Versuch, die Schwere der deutschen Geschichte auf der Bühne abzuladen, wo der Regisseur sie jedoch nicht aufhebt, nicht damit spielt. So gehen Bühnenbild und der Rest der Inszenierung weitgehend aneinander vorbei, die Schauspieler sind immer ein bisschen fehl am Platz in dieser imposant-faszinierenden Videoinstallationsskulptur. Einzig Kathrin Angerer als Maddalena genannt Maud genannt Kokaina kann dem etwas entgegensetzen, die anderen Darsteller (u.a. Hendrik Arnst, Irina Potapenko, Silvia Rieger) werden mehr oder weniger von Meeses Bildermischmaschinerie verschluckt. Wie so oft schert sich der Hausherr der Volksbühne wenig um einen unbelesen nachvollziehbaren Ablauf seines Theaterabends.

Die unweigerliche große Castorf’sche Durchhänger-Viertelstunde kommt diesmal gleich zu Beginn und lässt befürchten, es werde den ganzen Abend so weitergehen: Die Äußerungen der Darsteller sind akustisch fast gänzlich unverständlich, der Text ist offenbar unwichtig, nebenbei läuft laute Musik. Interessant ist dabei vor allem, die Atmosphäre im Publikum aufzunehmen; die sich steigernde negative Anspannung ist tatsächlich spürbar, und Castorf lässt die Publikumsverärgerung im letzten Moment abrechen, kurz bevor das Parkett ex- oder implodiert.

Dann ordnet sich alles ein bisschen, die Konturen der Handlung kommen zum Vorschein. Vom eigentlich sehr dankbaren Originaltext bleibt zwar nicht viel übrig, aber die Geschichte wird sichtbar. Da ist Titos ständiger Wechsel zwischen beiden Geliebten - während Angerer die Maud sehr schön als im Schnelldurchlauf querfickende Schlampe darstellt, bleibt die verruchte Kalantan (Jeanette Spassova) eher blass. In einer Szene wird eindrücklich Titos journalistischer Alltag gezeigt und schließlich folgt sein kurioser Selbstmord: Der Gelangweilte trinkt Thyphusbakterien, die sich Marc Hosemanns Tito als glibberige Gelantinemischung aus einem Eimer ins Gesicht kippt. Nun wird der Kranke behandelt, nur leider nicht auf Thyphus - die Regie lässt ihn eindrucksvoll von Alexander Scheer (als Titos Freund Nocera) und Kathrin Angerer zu Tode kurieren.

Doch solcher Szenen gibt es leider zu wenig in dieser Inszenierung, der Abend plätschert dahin, recht kurzweilig zwar, aber auch nicht besonders aufregend. Ein paar Witzchen zwischendurch zur Auflockerung; lebende Schmetterlinge (die ertränkt werden), ein sehr origineller echter Hund und eine schreckhafte Gans treten auf und fesseln das Publikum - „Kinder und Tiere auf der Bühne...“ - im Zweifelsfalle mehr als vieles, was die menschlichen Darsteller tun. Nachdem im Laufe des Abends etwa sechzig Zuschauer aus der insgesamt sehr gut besuchten Vorstellung geflohen waren, spendete das verbliebene Publikum dem Ensemble am Ende dennoch viel Applaus.

Nora Mansmann

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