Spider-Man
Comicverfilmungen dienen Regisseuren oftmals als Stilübung der
lukrativen Sorte: Haben sie sich einmal als Filmemacher im innovativen
oder Independentbereich einen Namen gemacht, so winkt ihnen mit der
Inszenierung einer Comicadaption die Eintrittskarte zu den ganz großen
Geldtöpfen Hollywoods.
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Über allen Dächern ist Ruh, über allen Hochhäusern spürest Du... |
Gerade bei einer Comicverfilmung lässt sich die
Charakterstärke eines solchen Regisseurs trefflich daran messen,
inwiefern er sich für das große Budget zu Zugeständnissen an Kommerz und
Massenkompatibilität korrumpieren lässt: Während Tim Burton, der Meister
des American Gothic, seinen kompromisslos düsteren Stil in den ersten
beiden "Batman"-Verfilmungen beinahe uneingeschränkt durchhielt, ließ
Joel Schumacher das vierte Filmwerk des Fledermausmannes "Batman and
Robin" in einem völlig überzogenen, pastellbunten Klamaukkonglomerat
scheitern. Und während Mark Dippé mit "Spawn" 1997 nur ein lauwarmes
Effektspektakel zustandebrachte, gelang Stephen Norrington mit dem
pechschwarzen Vampirrächer-Epos "Blade" eine der gelungensten
Comicverfilmungen überhaupt. Zuletzt zeichnete Bryan Singer, Schöpfer
des genialen "The usual suspects", den wie Batman und Superman aus dem
Hause Marvel stammenden "X-Men" ein ungewöhnlich nachdenkliches, beinahe
philosophisches filmisches Portrait.
Nun fiel Sam Raimi, die Aufgabe zu, Spider-Man, dem zweifellos
beliebtesten unter den gezeichneten amerikanischen Superhelden, zu
seinem ersten großen Zelluloidauftritt zu verhelfen. Eine Mammutaufgabe
mit einer im Falle des Scheiterns enorm hohen Fallhöhe, bedenkt man die
ungeheure und ungebrochene Popularität, die der Spinnenmann in den
Vereinigten Staaten genießt, und die Raimi vor allem durch sein glänzend
aufgelegtes Darstellerensemble mit Bravour absolvierte.
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Es folgt ein Spinnen-Kuss, kein Spinnen-Biss. |
Wenige Comichelden dürften wie Spider-Man in den USA einen so hohen
Sympathiebonus haben, der beinahe dem eines Nationalheiligtums gleichkommt.
Die Popularität ist wohl vor allem in der Menschlichkeit der Figur begründet,
die sich hinter dem Spinnenmannkostüm verbirgt: Spider-Mans Alter
Ego, Peter Parker, ist kein Außerirdischer vom Planeten Krypton und kein
finsterer, schizoider, die Gespenster der Vergangenheit jagender Rächer
im Fledermauskostüm, sondern bietet als stinkgewöhnlicher Heranwachsender
mit allen generationstypischen Problemen mehr Identifikationsfläche als
alle anderen Marvel-Helden. Dieser Superheld spielt im realen Leben
nicht den schüchternen, etwas linkischen jugendlichen Journalisten, den
sein Kollege Clarke Kent zu sein vorgibt, er ist es wirklich. Peter
Parker, der durch einen Spinnenbiss übernatürliche Kräfte erlangt und
auf einmal mit all den spätpubertären Unzulänglichkeiten eines
schmächtigen, introvertierten Heranwachsenden im Handstreich aufräumt,
ist damit das perfekte Umkehrbild so vieler jugendlicher
Ohnmachtsgefühle.
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Wundersame Wandlung über Nacht. |
Und Sam Raimi gelingt insbesondere in der ersten Hälfte seiner
Leinwandversion, diese durch und durch menschliche Seite des Comichelden
Spider-Man einfühlsam zu adaptieren und auf bewundernswerte Weise
lebendig, förmlich greifbar werden zu lassen. Der 27jährige Tobey
Maguire ist schlicht Idealbesetzung als schüchterner, introvertierter
und leicht verklemmter Teenager, der seine dicke Hornbrille auf der Nase
trägt, in der Schule von seinen Mitschülern gehänselt wird und seit
der vierten Klasse die Nachbarstochter Mary Jane liebt, ohne sich je
getraut zu haben, sie anzusprechen. Die Geborgenheit seines kleinbürgerlichen
Zuhauses illustrieren vortrefflich Rosemary Harris als liebevolle
Aunt May und Cliff Robertson als vierschrötiger, aber ebenfalls
herzensguter Onkel Ben. Beinahe schon übertrieben wirkt diese kleine
Heile-Welt-Idylle, was den späteren Schmerz des Protagonisten über
deren Zerstörung nur noch nachhaltiger fühlbar macht.
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Willem Dafoe spielt Norman Osborn. |
Willem Dafoe glänzt in der Rolle des mondänen Großindustriellen
Norman Osborn, den ein fehlgeschlagenes Experiment seine dunklen Seiten
hervorkehren lässt, um in bester Jekyll-and-Hyde-Manier zum Green
Goblin, dem großen Gegenspieler des Spider-Man, zu avancieren. Eine
Ebene darunter, auf der von Peters ziviler Existenz eines
Highschool-Absolventen mit einer Anstellung als Fotograf bei einer
großen Tageszeitung, rivalisiert der adoleszente Superheld (in
Vertretung des Proletariats) mit dem schwerreichen Osborn-Junior Harry,
der zugleich sein bester Freund ist, um die Gunst bereits erwähnter
Nachbarstochter Mary Jane. Charaktermime Dafoe wird durch David Koepps
Drehbuch glücklicherweise in die Lage versetzt, seinen Norman Osborn
weder als eindimensionalen Klischee-Schurken noch als ironisch
verzerrten und damit seiner Bedrohlichkeit weitgehend beraubten
Widerpart anzulegen, sondern die Figur des Green Goblin sowie dessen
menschliches Alter Ego zu einem ebenso schillernden wie tragischen
Kontrahenten zu entwickeln.
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James Franco überzeugt als Harry Osborn. |
Sam Raimi erzählt "Spider-Man" in seiner ersten Hälfte als wunderbar
warmherzige, stellenweise höchst komödiantische
Coming-of-Age-Geschichte, ohne jemals in den Bereich des
Lächerlich-Slapstickhaften abzugleiten. Peter Parkers erste ungelenke
Schritte auf seinem Weg zum Superheldendasein, das Entdecken ungewohnter
Kräfte und Fähigkeiten und damit korrespondierend das Heranreifen einer
neuen, ernsthaften Weltsicht werden als wunderhübsche Allegorie auf die
körperlichen "Entdeckungen" während der Pubertät angelegt, wenn Peter
beispielsweise vor dem Spiegel fasziniert seinen auf einmal muskulös
erblühten Oberkörper betrachtet oder seiner besorgten Tante den Zutritt
zu seinem Zimmer verwehrt, in welches er in grenzenloser Begeisterung
über seine neuen arachnoiden Fähigkeiten von oben bis unten weiße
Spinnweben verschleudert hat. Auch seine ersten Auftritte im (voll
jugendlichem Elan für einen Wrestlingkampf selbst entworfenen)
Spider-Man-Kostüm fallen eher tollpatschig denn wirklich heldenhaft aus,
wobei Tobey Maguire sowohl die Lacher als auch die Herzen der Zuschauer
stets auf seiner Seite hat.
Den Wendepunkt zum Dramatischen findet das Geschehen mit dem Tod des
geliebten Onkel Ben, was raffinierterweise mit einem narrativen Kniff
ausgestattet wird, so dass der Verlust für Peter nicht nur das Ende der
Kindheit sondern auch das Ende der Unschuld markiert. Spider-Mans
späteres Eintreten für Gerechtigkeit und gegen das Verbrechen wird damit
ein Stück weit als Peters Suche nach Sühne und Erlösung von dem
Selbstvorwurf, den Tod des Onkels nicht verhindert zu haben, erklärt,
auch wenn ihm dessen Worte die Superheldentätigkeit allein als
Verpflichtung auf Grund seiner Fähigkeiten oktroyieren wollen: "With
great power comes great responsibility" ("Aus großer Macht erwächst große
Verantwortung"). Das Aufeinandertreffen von
Spider-Man und dem Green Goblin stilisieren Raimi und Koepp als
schicksalhafte Konfrontation, der Tragik wie Unausweichlichkeit anhaften:
Verbindet doch die beiden, die sich in ihren Maskeraden bis aufs Blut
bekämpfen, in ihrem zivilen Leben ein inniges familiäres Verhältnis.
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Willem Dafoe alias Norman Osborn alias »Green Goblin«. |
Abstriche macht der Film bei den Action-Sequenzen. Sie wirken aufwendig,
aber nicht spektakulär, und die vor allem bei Spider-Mans
Hochhaussprüngen und Flügen durch tief eingeschnittene Straßenschluchten
von FX-Spezialist John Dykstra eingesetzten Computer-Effekte sind trotz
scheinbar frei fliegender Hochgeschwindigkeitskamera stets als Tricks zu
erkennen und damit alles andere als sensationell. Unspektakulärer, aber
wesentlich gelungener sind dafür jene Effekte, die Peters erweitertes
Wahrnehmungsvermögen für den Zuschauer visualisieren, wenn er zum
Beispiel die heranrasende Faust eines erzürnten Mitschülers schnell
genug wahrnimmt, um sie in Zeitlupe einmal lässig zu umrunden, was
später in einem "Matrix"-Zitat vor flammendem Inferno noch einmal
ausgiebig zelebriert wird.
Gegenüber dem ansonsten stimmigen Ganzen wirkt dann das Ende leider
wenig schlüssig: Zu aufgesetzt, zu konstruiert erscheint der Ausgang
der Geschehnisse, zu augenscheinlich das Bemühen von Drehbuchautor
Koepp, dem Helden ein echtes, vollwertiges Happy-End zu versagen und
damit bereits die Exposition zu schaffen für die folgenden Abenteuer des
Spinnenmannes. Daß die auf die Leinwand kommen werden, steht außer
Frage: Bereits jetzt haben Sam Raimi und Tobey Maguire für "Spider-Man
II" unterschrieben.
Johannes Pietsch
Links:
Offizielle Website: Spider-Man
Amazon.de: Spider-Man Soundtrack
SPIEGEL online: Spider-Man: Held mit Herz
SPIEGEL online: Interview mit »Spider-Man« Tobey Maguire
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