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Die Tiefenatmungsreportage

Das Faktum: Unser Körper wird zu siebzig Prozent durch das Ausatmen entgiftet. Das Problem: Nur Babys und Sänger atmen richtig. Die Lösung: Jeder kann lernen, bewusst zu atmen. Die Frage: Braucht man dazu eine "Tiefenatmungs-Gruppe"?

Atmen ist umsonst. Bei Monika Tafel kostet es 18 Euro. Etwa so viel wie eine CD aus den Charts. "Ich werde zwischendurch auch mal die Hand auf Bauch und Brust auflegen", sagt sie leise. "Wenn dich das stört, musst du dich melden." Dienstag Abend in einem Hinterhof im Hamburger Karoviertel. Osho-Meditationscenter. Tiefenatmungs-Gruppe. Frau Tafel sitzt auf einem roten Stoffsofa im Empfangsraum und kassiert die Kursgebühr. Braune lange Haare mit weißen Strähnen, dicke Brillen-gläser, diverse Halsketten, weite Hose, rote Strickjacke. Die heilpraktische Psychotherapeutin wirkt wie eine Kreuzung aus Alice Schwarzer und Rita Süssmuth. Ihr Prospekt verspricht viel: "Durch Tiefenatmung können wir aktiv oder passiv Kontakt zu verborgenen Gefühlen aufnehmen". Frau Tafel lässt nach der Rebirthing-Methode des amerikanischen New-Age-Pioniers Leonard Orr atmen. Die anderen vier Teilnehmer haben schon öfter rebirtht, ich bin der einzige Anfänger. "Ich werde mich besonders um dich kümmern", verspricht Frau Tafel und drückt mir sanft zwei Euro Wechselgeld in die Hand.

Rebirthing

In den 70er Jahren entwickelte der Kalifornier Leonard Orr aus fernöstlichen Weisheiten des Atmens eine eigene westliche Therapieform: Rebirthing. Durch spezielle Atemtechniken sollen alte Konditionierungen im körperlichen und seelischem Bereich aufgelöst und negative Erfahrungen an die Oberfläche geholt werden. Das Ziel: die Lösung innerer Konflikte, tiefe Entspannung, stärkere Leistungsfähigkeit, mehr Lebensfreude. Rebirthing hat in den vergangenen Jahren starken Zulauf erfahren und wird in fast allen deutschen Großstädten angeboten. In Hamburg nutzt die heilpraktische Psychotherapeutin Monika Tafel (55) die Räume des Osho-Meditationscenters in der Karolinenstr. 7-9 einmal im Monat für ihre Rebirthing-Seminare. Monika Tafel betreibt eine "Lebensschule für Atem, Meditation und Energiearbeit".

Link:
rebirthing.de

Der Meditationsraum. Betreten in Straßenschuhen verboten. Ansonsten weiß, sauber, freundlich. Auf den ersten Blick nicht anders als der Aerobic-Raum in einem x-beliebigem Fitness-Center – wäre da nicht Osho alias Bhagwan. Verheißungsvoll lächelt der 1990 verstorbene Guru von einem überlebensgroßen Foto an der Wand herab. Sofort ist klar: Hier geht es nicht um Sport, hier geht es um Fitness für die Seele. Frau Tafel dreht die Anlage auf. Ich erwarte Meditationsmusik, doch plötzlich dröhnt die raue Stimme Giana Naninis aus den Boxen. Für Frau Tafel und ihre Schüler ein Startsignal. Sie wirbeln mit den Armen durch die Luft, drehen sich im Kreis und wechseln zwischen weiten und tippelnden Schritten. Im Dreißig-Sekunden-Takt geben sie kurze Glückslaute von sich. Ausdruckstanz zu 80er-Jahre-Italo-Rock. Dann ein radikaler Stilwechsel hin zu Schweden-Pop von Ace of Base. Unbeirrt flitzen meine Kurskollegen wie eine Rasselbande übers Parkett. Frau Tafel gibt Kommandos. Während des Tanzens sollen wir uns Kissen zuwerfen. Einer Frisbeescheibe gleich segelt mein Kissen einem der Teilnehmer mitten ins Gesicht. Ich hebe zur Entschuldigung die Hand, er lächelt nur und dreht eine Pirouette. Kläglich versuche ich, tänzerisch mitzuhalten. "Tanzt jetzt in Zweiergruppen mit Blickkontakt", sagt Frau Tafel. Sie nimmt mich an den Händen. Ihr Gesicht strahlt ehrliche Fröhlichkeit aus. Prompt knicke ich mit dem Fuß um.

Ende der Eintanzphase. Entspannungsübungen. Wir stehen im Kreis. Frau Tafel will, dass wir uns mit Namen vorstellen. "Ich bin Andrea", sagt eine pummelige Blonde mit New York-Sweatshirt. "Ich bin Frank", sagt der Typ, dessen Gesicht ich eben mit dem Kissen getroffen habe. "Ich bin Detmar", hechelt ein hagerer Mittsechziger mit Schnauzer, der sich beim Tanzen völlig verausgabt hat. "Ich bin Renate", murmelt eine kleine Unscheinbare mit Brille. Breitbeinig stehen wir da, die Knie leicht angewinkelt, die Arme lassen wir baumeln. "Atmet langsam und tief ein und aus", sagt Frau Tafel mit bedächtiger Stimme. "Schließt die Augen. Entspannt euch. Konzentriert euch auf eure Füße. Spürt eure Füße." Langsam arbeiten wir uns nach oben vor: Knie, Po, Bauch, Brust, Schultern. Unser Ziel: Aus der Grundstellung heraus erhöhte Aufmerksamkeit für die einzelnen Körperteile entwickeln. Das funktioniert auch bei mir als Anfänger – bis wir beim Kiefer angekommen sind. "Ganz locker werden. So dass der Speichel rausläuft wie beim Dorfdepp", instruiert Frau Tafel.

Tiefenatmung. Jeder von uns erhält eine dünne Matratze. Wir positionieren uns in gleichmäßigem Abstand zueinander auf dem Boden. Frau Tafel schaltet das Licht auf Sparflamme. "Bitte Schmuck, Uhren und Ringe ablegen. Wenn ihr enge Gürtel habt, öffnet sie, sonst schnüren sie den Bauch ein", sagt sie. Wir liegen auf dem Rücken. "Atmet so kräftig ihr könnt durch den Mund ein. So, dass sich der Bauch spannt", sagt Frau Tafel. "Macht danach keine Pause, atmet direkt wieder aus." Nach und nach schaffe ich es, Ein- und Ausatmen miteinander zu verbinden. Das ist anstrengend, mein Mund wird trocken, aber der Atem beginnt zu fließen. Mittlerweile beschallt sanftes Meeresrauschen den Raum. Neben mir regelmäßiges Keuchen. Der Boden vibriert rhythmisch: Detmar tiefatmet sich zu einen Höhenflug und schlägt dabei mit den Händen auf den Boden. Frau Tafel ist begeistert. "Ja, gut. Ihr könnt ruhig laut sein. Lasst es raus." Ich versuche, weiter konzentriert zu atmen. Nach zehn Minuten spüre ich ein Kribbeln im Körper, das sich in meinen Zehen- und Fingerspitzen zu entladen scheint. Plötzlich sitzt Frau Tafel neben mir. Sie legt die Hand auf meinen Bauch und wandert hoch bis zum Brustbein. "Was spürst du?" fragt sie. Ich erzähle ihr von dem Kribbeln. "Das ist normal", sagt sie. "Atme weiter wie bisher. Bewege Arme und Beine, wenn du willst." Ich will Frau Tafel nicht enttäuschen und fange an, zum Atemrhythmus mit meinen Beinen zu rudern. Wie Detmar lasse ich meine Arme auf die Matratze klatschen. Frau Tafel gurrt, als hätte sie gerade ein Ei gelegt. "Sehr gut", lobt sie. "Du gehst jetzt zurück in deine Kindheit. In die Wohnung, in der du aufgewachsen bist." Zurück in die Kindheit? Einfach so? Das ist zuviel für einen Anfänger wie mich. "In welchem Zimmer bist du?" fragt Frau Tafel. "Im Kinderzimmer", antworte ich willkürlich. "Wie hast du deine Mutter damals genannt?" fragt Frau Tafel. "Mama", sage ich. "Dann rufe sie jetzt", sagt Frau Tafel. Für ein Paar Sekunden vergesse ich fast zu atmen. Meint sie das wirklich ernst? "Rufe deine Mutter", wiederholt Frau Tafel. Ich spiele mit. "Mama!", sage ich zaghaft beim Ausatmen. Und dann etwas lauter: "Mama!" Ödipus meets Tiefenatmung. In meinem Bauch wartet ein Lachen, das hinauswill. Beim dritten "Mama" entlasse ich es mit einem vorgetäuschtem Hustenanfall in die Freiheit. "Ja, lass alles raus", sagt Frau Tafel.

Nachbesprechung im Schneidersitz. "Ihr ward eine extrem leise Gruppe", resümiert Frau Tafel. Andrea freut sich: "Ich habe es geschafft noch stärker archaisch zu sein." Frank hadert mich sich selbst: "Ich hab' nicht das erreicht, was ich wollt'. Ich bin kolossal ärgerlich mit mir", sagt er. "Zu viel Wollen, zu viel Wollen", gurrt Frau Tafel. "Du, danke Monika, das ist es. Ich hab' zu viel gewollt", sagt Frank enthusiastisch. Ich bin als letzter an der Reihe und erzähle, dass dieser Abend für mich als Anfänger eine sehr interessante Erfahrung war und dass ich mich auch in Zukunft weiter mit Meditationstechniken beschäftigen werde. "Du warst schon sehr weit", sagt Frau Tafel zufrieden. "Dein ES hat zwischendurch die Kontrolle über dich übernommen."

Sebastian Brück

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