Tori Amos: Scarlet's Walk
Das schon immer stark ausgeprägte Phänomen der weiblichen Singer/Songwriter in
Nordamerika erhielt in letzter Zeit noch einmal einen kräftigen Impuls, als mit
Künstlerinnen wie Alicia Keys oder Vanessa Carlton Angehörige der jüngeren
Generation auf den Markt gespült wurden. Doch auch mit diesen sehr kalkuliert
aufgebauten Stars im Nacken haben die Vorreiterinnen der Szene, namentlich Alanis
Morissette und Tori Amos das Heft noch weitgehend in der Hand. Nachdem die erste
vor kurzem mit ihrem neuen Album "Under Rug Swept" einen eher mäßigen Erfolg
landete und viele schon von Stagnation sprachen, versucht nun Tori Amos mit
ihrem neuen Album an bisherige Erfolge, die sich bisher in 12 Millionen verkauften
Tonträgern und 8 Grammy-Nominierungen niederschlugen, anzuschließen.
"Scarlet's Walk" ist ihr siebtes Studioalbum seit ihrem Debüt vor zehn Jahren mit
"Little Earthquakes" und schließt sich im Abstand von nur einem Jahr an ihr letztes
Projekt "Strange Little Girl" an, ein großartiges Album mit sehr eigenwilligen
Cover-Versionen. Das neue Album entstand in Folge der Anschläge vom 11. September
des letzten Jahres, als die Sängerin auch gerade in New York weilte. Sie selbst
beschreibt ihre Erlebnisse und das Konzept hinter der neuen Veröffentlichung:
"Es war ein Erwachen für viele von uns, und wir mussten eine Art Reise in Richtung
Selbstfindung antreten. Meine aktuellen Songs entstanden quasi von selbst, denn
ich war auf der verzweifelten Suche nach Antworten..." So sind denn auch die
18 Songs des randvollen Albums als eine musikalische Reise durch die USA
konzipiert, jeder Song markiert einen Streckenabschnitt in diesem "vertonten Roman".
Die Protagonistin Scarlet ist laut Amos' Aussage zur einen Hälfte eine Inkarnation
ihrer selbst, zur anderen aber auch Stellvertreterin "für jeden von uns".
Scarlet trifft auf dieser imaginären Reise Menschen unterschiedlichster Schichten
und Völker, so ist zum Beispiel ein nicht unwesentlicher Teil des Albums auch den
amerikanischen Ureinwohnern gewidmet. Tori Amos' Großvater war Cherokee, und in
Erinnerung seiner Geschichten entstanden Songs wie der "Wampum Prayer", eine kurze,
unbegleitete Hymne auf die Toten eines Massakers an den Apachen oder "Your Cloud",
welcher die Rassentrennung zum Thema hat. Auch der Tod spielt wieder einmal eine
wichtige Rolle in den Texten, die diesmal für Amos' Verhältnisse erstaunlich verständlich
geraten sind: nicht nur bei "I can't see New York", welches mit seiner Geschichte
eines Zusammenstoßes zweier Flugzeuge klar auf die Anschläge auf das World Trade
Center verweist, auch bei "Taxi Ride", bei dem die Protagonistin über die Reaktionen
auf den Tod einer nahestehenden Person reflektiert oder "Carbon", der die Geschichte
eines manisch-depressiven Lebensmüden erzählt.
Die Musik zu diesen durchaus persönlich gehaltenen Texten, die teilweise jedoch
zu sehr zur politisch korrekten Bedeutungsschwangerschaft neigen, ist eine eher
düster gehaltene Mischung aus dem Balladenstil der frühen Schaffensphase von
Tori Amos, die sie so untrennbar mit ihrem Bösendorfer-Flügel verbindet und
einem vorsichtigen Einsatz anderer Tasteninstrumenten wie der Wurlitzer oder dem
Rhodes und Gitarren. Die experimentellen Mittel, die ihre Alben "From the Choirgirl
Hotel" und "Venus" so spannend und im positiven Sinne schwer verdaulich machten,
sind gänzlich verschwunden. Ein Schritt, der sich schon auf dem letzten Album
ankündigte, insofern als konsequent bezeichnet werden kann, der aber auch zu einer
merkwürdigen Eintönigkeit führt. Die Songs ähneln sich doch untereinander sehr
stark oder erinnern sehr direkt an Werke aus den frühen Alben, so daß von "Scarlet's
Walk" keine entscheidenden Impulse ausgehen. Zudem kann einem auch die immer wieder
gleiche Schlussfloskel, das musikalisch offene Ende, aus dem Tori Amos' verletzliche,
teils brüchige Stimme herausragt, auf die Nerven fallen. Dieses Phänomen mag zwar
mit dem Prinzip des durchkomponierten "Romans" begründet werden, man könnte es
jedoch auch als eine über die Jahre gewachsene Marotte bezeichnen.
Die schönsten Momente hat das Album in dem auch als Single erfolgreichen "A sorta
fairytale", dem sehr nachdenklichen "I can't see New York" und dem wunderschönen,
mit Streicherarrangements fast ins kitschige abdriftenden "Gold dust", welches die
Sängerin ihrer einjährigen Tochter widmet. Ansonsten nur eine eingeschränkte
Kaufempfehlung, da man von der sonst so innovativen Tori Amos musikalisch ein wenig
mehr erwarten durfte.
Jens Lehmann
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