brainstorms! dein onlinemagazin.
 bilder     magazin     b!fragt     interaktiv     mail 

 magazin »     unterhaltung  kino+kultur  musik  politik  sport  auto  berliner platz 
   

Der Würgeengel

Eine beliebte Grundsituation für Filme, vorzugsweise amerikanische Thriller, ist der Zustand des Eingeschlossenseins: Eine Gruppe möglichst unterschiedlicher Menschen mit viel enthaltenem Konfliktpotenzial sitzt an einem Ort fest und muss unter diversen Schwierigkeiten (kein Essen, Krankheiten, äußere Bedrohungen usw. usf.) in dieser Zwangsgemeinschaft miteinander zurechtkommen.

Am Ende bleiben mehrere Tote zurück. Dieselbe Ausgangslage liegt auch vor in Karst Woudstras Theaterstück „Der Würgeengel“ nach dem Film „El ángel exterminador“ von Luis Bunuel. Thomas Ostermeier hat das Stück mit einem Großaufgebot an Schauspielern an der Berliner Schaubühne inszeniert.

Auf der schicken Wohnzimmerbühne von Jan Pappelbaum versammelt sich das Ensemble als hassenswerte Ausgeburt(en) der sogenannten guten Gesellschaft. Der schmierige Lebemann James mit der russischen Edelnutte im Gepäck, die exaltierte Opernsängerin, der liberale Politiker Wallrabe, seine dümmlich-unbedarfte Frau und was sich sonst noch auf den Leder-Polstern um den Goldfischteich räckelt, bieten schon nach den ersten zehn Minuten und einem Gespräch über Kultur eine perfekte Hass-Projektionsfläche an, sodass man eigentlich nur noch ungeduldig auf das große Grauen wartet, was den Figuren jetzt blühen muss - da war doch was mit würgen?

Der Unterschied zum klassischen Thriller-Schema ist in Ostermeiers Inszenierung, dass kein erkennbarer zwingender Grund dafür vorliegt, dass die Personen den Raum nicht mehr verlassen können oder wollen, es ist eine Behauptung. Zwar lässt Ostermeier den Würgeengel auftreten, lässt ihn die große Flügeltür schließen, gibt aber keinerlei weitere Erklärung für die Situation. Insofern eine mythische Geschichte, ein Rätsel, ein Märchen? Nein, ganz einfach ein Bild für die Zwänge der Gesellschaft, in der man eingeschlossen ist und die man schwer verlassen kann, obwohl es im Prinzip jedem freisteht, anders zu leben. Die Figuren unterliegen diesen Zwängen, doch auf dem engen Raum kommt es über kurz oder lang zur Kollision, zu Ausrastern und Ausbrüchen aus den Konventionen. Man verabschiedet sich vom gesellschaftlichen Smalltalk, die Wahrheit kommt auf den Tisch: Wer was mit wem hatte, welche außergewöhnlichen Sexualpraktiken dabei ausprobiert wurden etc. Mehr als einmal verschwinden Personen, die ursprünglich nicht zusammengehören, gemeinsam hinter einem der Sofas, James treibt es durchweg und öffentlich mit seiner Prostituierten (und redet auch von nichts anderem), und die noch jungfräuliche Opernsängerin entdeckt SM-Sex (Stichwort: Glasscherben) zusammen mit dem Marineoffizier Klaus, der seine Ausgehuniform abgelegt hat und den Rest des Abends im Carmouflage-Slip verbringt. Klaus' todkranke Frau Maria wird derweil - wegen ihrer Schmerzen - notdürftig mit einem Joint versorgt. "Die Kinder", die beiden jüngsten Gäste, die das Spiel der Erwachsenen nicht mitmachen wollen, nicht so werden wollen wie sie, ersticken sich gemeinsam im Schrank.

Ostermeier führt sehr eindrücklich vor, wie ekelhaft die Reichen und Wichtigen eigentlich sind, aber das haben wir schon längst gewusst, sinnvoller wäre es gewesen, dem Publikum klarzumachen, dass es selbst zu dieser Gesellschaft gehört. Auf einer weiteren Pappelbaum'schen Hochglanzmitteloungedesignerbühne tummelt sich ein überzeichnetes Klischee neben dem anderen. Die Übertreibungen sind geeignet, ein Publikum bei Laune zu halten, vor allem, wenn man sie so brilliant rüberbringt wie Anne Tismer, die als dämlich-dümmliche Gastgeberin Marta Wallrabe mit breitem Hamburgisch als Clown des Abends fungiert und die meisten Lacher erntet. Sie ist eine bedauernswerte, kaputte, tablettensüchtige Frau im Schatten ihres erfolgreichen Mannes, die selbst nicht die Möglichkeit hatte, etwas aus ihrem Leben zu machen. Das klingt im Text durchaus an, wenn die "Tochter aus gutem Hause" die Bitten der Party-Gesellschaft, für sie Klavier zu spielen mit einem "ich hab ja auch nichts anderes gelernt" beantwortet. Doch diese Zwischentöne gehen unter in der unentschiedenen Mischung aus platter Typisierung und Verfemdungsversuchen, die ohne vorherige Einfühlung nicht funktionieren können. Das Publikum kann sich - trotzdem es fast im Bühnenbild sitzt - bequem zurücklehnen und sich von den Charakteren distanzieren, da es sie nur als Witzfiguren bzw. Übertreibungen und nicht als Spiegel der Gesellschaft oder gar als Spiegel seiner selbst annehmen muss. So bleibt die Gesellschaftskritik genauso an der Oberfläche wie der Großteil der vordergründigen Gags. Die Figuren auf der Bühne sind dem Zuschauer herzlich egal, es sind vielmehr Voyeurismus und Schadenfreude, Abscheu und Lust am Ekel, die das Auditorium bei der Stange hält, als Mitleid oder Sympathie. Man bleibt weitgehend unberührt.

„Das Haus ist ein geschlossenes System, aus dem man nicht rauskommt, und wenn man rauskommt, ist man auf’m Friedhof“, so Thomas Ostermeier im Publikumsgespräch. Drei Tote hat es gegeben, die müssen beerdigt werden. Nachdem alle das Haus, die Bühne, durch die mittlere Flügeltür verlassen haben, steigt Rauch auf, und wenig später kommen alle in schwarzer Kleidung zurück. Sie sind noch im selben Bühnenbild, im Wohnzimmer, doch die Friedhofsatmosphäre stellt sich sofort her. Der Vater, der versucht, die Asche seiner Tochter dem Goldfischteich zu übergeben, hat Schwierigkeiten mit dem Deckel der Urne, das Ganze wird zur Slapsticknummer, die darin gipfelt, dass der Deckel der Urne nach getaner Arbeit als Ascher benutzt wird. Die ehemalige Party-Gesellschaft steht hilflos-unbeteiligt beieinander und sieht zu. Sie bleiben zusammen.

Nora Mansmann

Link: Die Schaubühne

frisch und neu
kino
musik
sport
politik
kultur
unterhaltung
bits+bytes
nach oben