Der zerbrochne Krug
Gerichtstag in einem kleinen Dorf, irgendwo zwischen Huisum, Halle und
Hindukusch: Verhandelt wird um einen Krug, der Marthe Rull in der
vergangenen Nacht zerbrochen wurde. Armin Petras, seit der laufenden
Spielzeit Hausregisseur am schauspielfrankfurt, verlegt Heinrich von
Kleists Lustspiel "Der zerbrochne Krug" aus der niederländischen Provinz
in ein zerstörtes Land zwischen Endzeitstimmung und Neuanfang.
Richter Adam (Jörg Pose) ist die Autoritätsperson des Dorfes, ein
kleiner Warlord mit ordenbehängter Uniformjacke und goldenen Uhren an
beiden Handgelenken, der sich zwei Dienerinnen (Ruth Marie Kröger,
Susanne Buchenberger) hält und dem weiblichen Geschlecht auch sonst
nicht abgeneigt ist. Um ihn als Mittelpunkt versammelt sich die
Dorfgemeinschaft zum Gerichtstag: Der Schreiber Licht (Peter Moltzen),
ein vorläufig treuer Untergebener, die resolute Marthe (Jennifer
Minetti), inmitten von Chaos und Zerstörung um einen zerbrochenen Krug
jammernd, mit ihrer Tochter Eve (Hilke Altefrohne), die ihre
Verletzlichkeit hinter den der Zeit entsprechenden starken Gesten einer
Soldatenbraut nicht verbergen kann. Der Angeklagte Ruprecht, Eves
Verlobter (Oliver Kraushaar), kommt mit seinem Vater Veit (Albert Kitzl)
im Muschaheddin-Outfit).
Die Ankunft des Gerichtsrats Walter (Roland Bayer) - am Frankfurter
Schauspiel ist er EU-Beauftragter, der mit dem Hubschrauber einfliegt -
verändert die Hierarchien. Adam muss dem Neuankömmling Rechenschaft
ablegen über sein Tun, die Anwendung und Auslegung der neuen Gesetze und
die Weiterführung alter Rituale. Im Umgang mit Walter hat er die zuvor
zur Schau gestellte Souveränität eingebüßt. Walter seinerseits hat wenig
Verständnis für die Dorfbewohner und ihre befremdlichen Sitten und
Gebräuche. Er schwankt zwischen Überheblichkeit und Desinteresse.
Agiert wird fast ausschließlich auf der Vorderbühne, jedoch über deren
ganze Breite. Leider beeinträchtigt die gelegentliche Konzentration der
Handlung in einer Ecke die Spannung, da auf diese Weise nicht alle
Zuschauer das Geschehen in Frontalsicht verfolgen können. Als Begrenzung
nach hinten hat Ulrike Siegrist die Fensterfront eines abgewrackten
Prachtbaus aus Stalins Zeiten gestaltet, in dem die Truppe in
zusammengewürfelter Klamotte - Westspenden? - Gericht spielt (Kostüme:
Dorothee Scheiffarth). Im Inneren des real existierenden Palasts der
Justiz bröckelt der Putz, knirschen die Stühle, sind die Türen mit
Zeitungspapier isoliert und die Fensterscheiben gesprungen.
Einschusslöcher künden vom jüngst überstandenen und von alten Kriegen.
Hinter den großen Fenstern, wo der Pilot im andauernden Schneegestöber
den EU-Hubschrauber putzt, ist Niemandsland.
Die Verlegung von Kleists Niederländer-Posse in ein heutiges
Krisengebiet gelingt durchgängig schlüssig ohne dem Stück den
Lustspielcharakter zu nehmen. Armin Petras lässt, konsequenter als je
zuvor, den Autor sprechen. Wo in seinen Inszenierungen sonst drastische
Bilder die Sprache ersetzen, hat der Regisseur hier sehr zurückhaltend
gestrichen und auch keine neuen Texte eingefügt. Ein bisschen rigoroser
hätte Petras im ersten Teil allerdings vorgehen dürfen, zieht sich der
Kleist'sche Text doch in die Länge. Der Genauigkeit der Inszenierung und
Ausstattung ist es zu danken, dass Langeweile trotzdem nicht aufkommt:
Im Bühnenbild, in den Kostümen und in der Gestik der Schauspieler sind
immer wieder augenzwinkernde Details zu entdecken.
Die Frage, die über der Inszenierung steht - wer Recht definiert, wer
richten darf und nach welchen Regeln das geschehen soll - stellt sich
nicht nur im Zusammenhang mit UN-Truppen in Afghanistan oder im Kosovo.
Das Problem liegt viel näher bei uns, liegt auch im Umgang des Westens
mit der DDR und ihren Bürgern nach der im Osten oft als "Anschluss"
bezeichneten Vereinigung. Auch das wird bei Armin Petras, selbst
aufgewachsen in Ost-Berlin, angedeutet, und eine Thematisierung dieses
Problems ist weiterhin nötig, denn in den Köpfen ist Deutschland auch
nach über zwölf Jahren noch nicht wiedervereinigt. Welcher Unterschied
besteht zwischen den UN-Päckchen für das Krisengebiet auf der Bühne und
einem "Paket nach Drüben"? Wie auf der Bühne, bei Marthe, Eve und
Ruprecht, die sich auf den Inhalt der Kartons stürzen und doch schnell
einsehen müssen, dass sie nichts damit anfangen können, kann auch eine
deutsch-deutsche Annährung nicht nur über das Materielle definiert
werden. Das Unverständnis Walters für die ihm fremde Welt und sein
Desinteresse daran, der Glaube, den Unterlegenen das eigene System nur
überstülpen zu müssen "und dann wird alles gut" findet sein reales
Vorbild nicht nur in Afghanistan, sondern auch im Osten Deutschlands.
Armin Petras' "zerbrochner Krug" ist ein Plädoyer für die Akzeptanz der
differenten Lebenswelten und Erfahrungen unterschiedlicher Menschen und
die Auseinandersetzung damit.
Nora Mansmann
Kaufempfehlung:
"Der zerbrochene Krug" bei Amazon.de bestellen.
|
frisch und neu
|
 |
|