Paris Hilton und meine Mutter10.08.2005 Wider den Second-Hand-SexkonsumVielleicht ist meine Mutter so zufrieden, weil sie Paris Hilton nicht kennt, in der Brigitte nur die sozialromantischen Reportagen liest und im Leben nicht auf die Idee käme, Sex als Hochleistungssport zu betrachten. Meine Eltern haben mehr Sex als ich. Regelmäßiger und, wenn man den gehässigen Äußerungen meiner Mutter Glauben schenken darf, auch stressfreier als ich. Woher ich das weiß? Denkt bitte nicht, ich hätte da groß nachgefragt. Es gibt ja nicht umsonst diese ungeschriebene, aber gesamtgesellschaftlich anerkannte Regel, nach der die eigenen Eltern kein Sexualleben haben, wenn man vom unumgänglichen Akt der Empfängnis mal absieht. Alles was darüber hinausgeht, unvorstellbar. Doch meine Mutter hat sich noch nie besonders für Konventionen interessiert und ist außerdem eine große Freundin des offenen Worts zur Unzeit. Also referiert sie gerne schon am Frühstückstisch, noch vor der ersten Tasse Kaffee, lang und breit über die Unterschiede in ihrem und meinem Sexualleben. Es ist ja nicht so, als würde mich das nicht für meine Eltern freuen. Aber es macht mich auch neidisch – und nachdenklich. Ich kenne kein Paar in meinem Umfeld, das nach drei Jahren noch von seinem aufregenden Sexualleben schwärmt. Von dreißig Jahren ganz zu schweigen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber vielleicht haben diejenigen doch ein wenig Recht, die die Übersexualisierung unserer Welt beklagen (inzwischen darf ja wirklich jeder im Internet komische Sexkolumnen schreiben). Man kann heute nicht mehr einfach nur Sex haben, heute muss man den Sex schlechthin haben. Und zwar jedes Mal. Sex hat in unseren Köpfen prinzipiell drei Großbuchstaben. SEX. Vielleicht haben wir kollektiv überdosiert mit Paris Hiltons und Pamela Andersons heiteren Home Videos (von denen die Generation meiner Eltern nichts mitbekommen hat, weil sie zu sehr mit ihrem eigenen Sexualleben beschäftigt war), mit künstlerisch wertvoller Pornographie, intellektuellen Swingerbüchern und Fetisch-Modenschauen. Versteht mich nicht falsch, ich finde es gut, dass sich heute jeder zu seinen kleinen Perversionen bekennen und fast jede abseitige Phantasie ausleben kann. Aber der Druck auf Ottonormalverkehrer ist hoch. Seit die Fetisch-Szene den Mainstream erobert hat (worüber paradoxerweise weder die Szene noch der Mainstream glücklich ist), glauben alle, sie müssten ihre Leiber auch in Latex pressen und sich im Kopulationstakt mit Wachs übergießen, um das volle Potential auszuschöpfen und nichts zu verpassen. Sie können längst nicht mehr bei Gelegenheit fröhlich anatomisch passend geformte Körperteile ineinander stecken, dabei Spaß haben und sich ihren Teil dazu denken. Nein, alle müssen immer und jedes Mal die totale Erfüllung finden und sich bis kurz vor ohnmächtig verausgaben, um den künstlich hochgeschraubten Erwartungen gerecht zu werden. Und im Zweifel auch, um was erzählen zu können, sollten sie mal zu ihrem Schlafzimmergebaren befragt werden. Als Konsequenz tragen Männer ihre Penisunsicherheit bis weit über das 30ste Lebensjahr mit sich herum, statt sie nach der Pubertät zu den Akten zu legen. Unnötiger Ballast auf dem Weg zur sexuellen Erfüllung. Mit 40 kaufen sie heimlich die erste Penispumpe, mit 45 Viagra und mit 50 denken sie über chirurgische Wege zur Erektionsbeschaffung nach. Frauen tragen höchstens noch bei akuten Nierenbeschwerden normalgroße Unterwäsche und leiden ansonsten des Sex-Appeals zuliebe unter Fremdkörpern im Hintern. Fortgeschrittene lassen sich Fremdkörper gleich dauerhaft implantieren, um den Sex schlechthin noch effektiver anbahnen zu können. Und dann spucken Petra-Cosmo-Freundin unentwegt noch tollere Tips für noch tolleren Sex aus, die im Selbstversuch nicht selten in fernsehtauglicher Comedy enden. Und während all dieser Bemühungen und Trockenübungen auf dem Weg zur sexuellen Übererfüllung, haben unsere Eltern vermutlich relativ unspektakulären, aber sehr zufriedenstellenden Sex. Lyssa Wer noch mehr von Lyssa lesen möchte, kann ihr tägliches Weblog lesen: |
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